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Judith Butler Gendersensibles Lernen

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Submitted By funkel
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Essay zum Thema:
„Entspricht die gendersensible Bildung den Vorstellungen Judith Butlers von 'Gender Education'?“

Mädchen lieben Rosa und spielen gern mit Puppen. Jungen mögen die Farbe Blau und Autos. Mädchen und Jungen unterscheiden sich. Bereits im Mutterleib entwickeln sich, ausgehend der unterschiedlich hohen Konzentration des Hormons Testosteron, die männlichen und weiblichen Gehirne unterschiedlich. In männlichen Gehirnen sind die Bereiche für Aggression und Sexualität stärker ausgeprägt, in weiblichen sind beide Hälften besser vernetzt. So reagieren männliche Babys intensiver auf Mobiles, weibliche finden Gesichter spannender. Jungen verfügen beispielsweise über ein ausgeprägteres Vorstellungs- und Orientierungsvermögen, während Mädchen sprachlich versierter sind und sich besser in andere Menschen hineinversetzten können (Röll, Iris; Schwarze-Reiter, Kathrin 2009).
Doch Geschlecht wird heute kaum noch als etwas gänzlich eindeutiges und fremdbestimmtes verstanden. Es wird davon ausgegangen, dass Gene und die Umwelt die geschlechtliche Entwicklung gleichermaßen bestimmen. Generell wird das biologische und das soziale Geschlecht unterschieden. Das biologische Geschlecht, Englisch "Sex", meint die chromosomale, hormonale, gonadale Geschlechtlichkeit sowie die äußeren und inneren Genitalien; während das soziale Geschlecht, Englisch "Gender", das Geschlechtsrollenverhalten bezeichnet, bestehend aus sexuellem Erleben und Verhalten, der Geschlechtsidentifikation und der verinnerlichten Geschlechtsrollenmuster, nach denen sich orientiert wird (Gerede e.V. 2012).
Im Gegensatz zu Sex wird Gender als ein gesellschaftliches Konstrukt verstanden. Geschlechterrollenverhalten wird von Kindesalter an unter Einfluss verschiedener Sozialinstanzen wie Familie, Schule und Freundeskreis herausgebildet und durch die Erwartungen der Umwelt geformt. Das Denken in zwei Geschlechtern wird dem Menschen anerzogen und wirkt sich prägend und gestaltend auf Interaktion und Kommunikation aus. Demnach wird Gender fortwährend im Alltag sozial konstruiert. Dieser Prozess wird als "Doing Gender" bezeichnet (Niedersachsen Gleichberechtigung und Vernetzung e.V. 2012).
Die amerikanische Philosophin Judith Butler beeinflusste die Debatten über Geschlechterdifferenz und Geschlechtsidentität maßgeblich und gilt heute als eine der einflussreichsten Vertreterinnen der neueren Frauen- und Geschlechterforschung. Das Erscheinen ihres Werkes "Gender Trouble" erregte 1990 internationales Aufsehen, da die Theoretikerin darin die biologische Natürlichkeit der Unterscheidung von Männern und Frauen grundsätzlich hinterfragt. Butler dehnt somit die These der kulturellen Konstruktion des sozialen Geschlechtes auf das biologische Geschlecht aus. Sie geht davon aus, dass die körperliche Differenz erst durch eine begrifflich-symbolische Ordnung hervorgebracht wird. Diese verlangt den Individuen eine Einordnung in das Schema Mann oder Frau ab, um als Mensch erkennbar und handlungsfähig zu werden (Meißner 2012, S.7). Der Untersuchungsrahmen der Philosophin erstreckt sich über das Verhältnis von Subjekt, Körper, Sprache und Macht und entsprechenden diskursiven und sprachlich verankerten Zwängen. Hierbei liegt Butlers Interesse in der Frage nach der Hervorbringung eines Subjektes im Prozess der Unterwerfung unter gesellschaftlichen Normen und Bedingungen. Normen bringen bestimmte Subjekte hervor, indem sie festlegen, was als menschlich, unmenschlich oder gar undenkbar gilt und haben im Folgeschluss immer einen produktiven als auch einen ausschließenden Effekt. Somit wird die Norm der Zweigeschlechtlichkeit zu einer Bedingung der Intelligibilität als Subjekt und stellt zugleich eine Grenze des Menschlichen dar. Um also als Subjekt (an-)erkennbar zu sein, muss ein Individuum entweder Mann oder Frau sein. Die eindeutige Geschlechtszugehörigkeit erscheint als natürliche Grundlage des Menschenseins (Meißner 2012, S.8 f.).
Die Binarität der Geschlechter kann somit laut Butler nicht als natürlich angesehen werden, da sie im Diskurs entsteht und auf Wiederholung von Normen basiert. Ihre Intention ist es daher die soziale Machtwirkung von Normen erkennbar zu machen und die Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit als Konstruktionen kultureller Konventionen zu verdeutlichen (Blödorn 2009, zit. In: Scheffel 2010, S. 388 f.).
Butler operiert mit ihrer Theorie an den Grenzen des gesellschaftlich Selbstverständlichen und macht ihre Inhalte so oft schwer zugängig. Das Überdenken des eigenen Geschlechtes gestaltet sich besonders schwierig, da die Ausbildung und Unterrichtung in Normen und Rollenbildern von Geschlechtlichkeit bereits in der frühkindlichen Entwicklung beginnt, indem weibliche oder männliche Eigenschaften und Rollenmuster zunächst observiert und schließlich imitiert werden. In der Schule und anderen sozialen Institutionen setzt sich die "Gender Education" fort. Hier werden sowohl die Normen als auch die Bedeutung ihrer Einhaltung vermittelt. Laut der Theoretikerin wird so jedem instruiert, dass diejenigen, die ihr Gender in einer nicht anerkannten Art ausleben, Gefahr der Schikane und Gewalt laufen. Dem Menschen wird eine Angst anerzogen, nicht den Normen zu entsprechen. Da die geschlechtliche Identität jedoch von sozialen und psychischen Prozessen geformt und getragen wird, kann Gender Education die Normen niemals einseitig erzwingen. Butler betont, dass "jeder der sich bemüht die Norm zu verkörpern auf eine Weise daran scheitern wird, die viel interessanter ist, als es ein Erfolg je sein könnte" (Butler 2011, zit. In: Butler 2012, S.15 f., 19). Das Konstrukt Gender kann somit nie absolut normgerecht und unveränderbar sein.
Butler will bestehende Rollenbilder nicht abschaffen, spricht sich aber bestimmt gegen definierte und unveränderbare Kategorien aus.
Die Schule, als Spiegel der Gesellschaft, ist nicht geschlechtsneutral. Oftmals werden bestehende Rollenbilder sogar verstärkt, indem Individuen typisiert und mit oberflächlicher Geschlechtsrhetorik simplifiziert werden.
Mädchen lernen anders, Jungen auch. Die Gründe hierfür bei biologischen Unterschieden zu suchen wäre unzureichend. Viel mehr gelangen die geschlechtsspezifischen Erwartungen in das Augenmerk. Genderstereotypen verursachen somit maßgeblich unterschiedliche Schulleistungen und Bildungsbeteiligungen unter den Geschlechtern und beeinflussen den Schulalltag auf vielfältige Art und Weise (Richter 2002, zit. In: Sander 2005, S. 414).
Gendersensible Bildung verspricht den Unterricht gendergerecht zu gestalten, sowohl Mädchen als auch Jungen zu fördern und zu motivieren und ihr Rollenverhalten zu reflektieren, um Potenziale im Unterricht individuell entfalten zu können. Ziele des gendersensiblen Unterrichts soll die Dekonstruktion von Genderstereotypen sowie das Gendermainstreaming darstellen (Greuter; Kiefer 2012).
Da Judith Butler keine pädagogische Theoretikerin ist, soll die vorliegende Arbeit eine Verknüpfung ihrer Inhalte und Thesen zu den Prinzipien des gendersensiblen Unterrichts schaffen, um zu untersuchen, ob dieser eine mögliche Lösung ihrer aufgeführten gesellschaftlichen Probleme erzielen könnte. Konkret soll die Frage beantwortet werden, ob ein gendersensibles Bildungsangebot den Vorstellungen Judith Butlers von 'Gender Education' entsprechen würde. Hierbei soll auf Methoden und Ziele des gendersensiblen Unterrichts eingegangen werden. Butlers komplexe Gedankengänge können in dieser Arbeit nur vereinfacht dargestellt werden und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
Gendersensibles pädagogisches Handeln macht sich geschlechterbezogenen Zuschreibungen bewusst und hinterfragt diese, indem es nach klischeehaften Rollenbildern in Unterricht und Schule fahndet. Meist werden Vorurteile schnell aufgefunden. Diese im Schnellverfahren und auf kognitiven Weg zu beseitigen ist jedoch eine Illusion. Oft stellt aber bereits das Aussprechen und Sicht- und Diskutierbarmachen der Rollenbilder und Vorurteile einen veritablen Erfolg dar. Gendersensible Pädagogik sollte hierbei folgende Dimensionen betrachten: Inhalte von Bildungsangeboten, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, das Unterrichtsverhalten der Lehrperson, die methodische Gestaltung der Bildungsarbeit und die eingesetzten Materialien und Medien (Derichs-Kunstmann 2012). Bei der Zusammenstellung gendersensibler Materialien und Medien für den Unterricht werden diese überprüft, inwiefern sie Rollenstereotype transportieren oder auflösen. Diese Untersuchung bezieht sich auf die sprachliche Gestaltung, die verwendeten Beispiele und die abgebildeten Illustrationen. Ziel der Gestaltung der Unterrichtsmaterialien ist es, die Vielfalt an Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu präsentieren, um niemanden auszugrenzen. Hierbei sollen unterschiedliche gesellschaftliche Realitäten und Interessenlagen von Männern und Frauen sowie Lebensrealitäten unterschiedlicher sozialer und ethnischer Gruppen dargestellt werden (Derichs-Kunstmann 2012).
Eine ähnliche Motivation lässt sich in der Theoriearbeit Butlers finden, welche scheinbare Wirklichkeiten und klischeehafte Rollenbilder hinterfragen will, um die Möglichkeit zur Neuorientierung zu bieten und den Ausschluss nicht intelligibler Menschen zu verhindern. Die Sprache gilt als das wichtigstes Ausdrucksmittel unserer Gesellschaft und hat eine besondere Kraft inne, gesellschaftliche Realitäten zu stabilisieren oder zu verändern. Die Nichtnennung von Gesellschaftsgruppen soll vermieden und somit eine "Unsichtbarmachung" verhindert werden. Demnach stellt die Sprache in Butlers Geschlechtertheorie eine ebenso wichtige Rolle dar, wie in der gendersensiblen Bildung, doch ist die Gewichtung eine andere. Während gendersensible Unterrichtsgestaltung die Sprache als ein Mittel zur Gleichstellung von Frauen und Männern einsetzt, indem beim Formulieren von Texten Frauen und Männer gleichermaßen berücksichtig werden, geht Butler davon aus, dass diese strikte Trennung den Dualismus zwischen den Geschlechtern, sowie die bestehende Ordnung der Geschlechterbinarität nur verstärkt. Die Philosophin begreift Sprache als ein kultur- und bedeutungsstiftendes Regelsystem, in derm bestimmte Aussagen möglich und andere als unsinnig, monströs oder schlicht undenkbar verworfen werden. Die Sprache, ebenso wie die Normung, hat eine realitätsproduzierende Wirkung, indem sie intelligible Lebensformen benennt und zugleich Ausschüsse undenkbarer, seltener Möglichkeiten des körperlichen Lebens schafft. Als Beispiel nennt die Geschlechtstheoretikerin die Unterscheidung von Sex und Gender, welche eine begriffliche Unterscheidung zwischen zweigeschlechtlich differenzierbaren Körpern schafft und die körperliche Binarität in ihrer Natürlichkeit bestärkt. Jedoch kann diese Differenzierung nicht behaupten, dass ein männliches Sex immer mit einem männlichen Gender verknüpft werden muss und kann somit keine Antwort auf die Frage der eindeutigen Zweigeschlechtlichkeit geben. Laut Butler existieren mehr als nur die zwei, als natürlich betrachteten Geschlechter und folglich kann eine geschlechtergerechte Sprache den Ausschluss von Lebensformen nicht verhindern, sondern verstärkt diesen umso mehr, indem in Texten nur auf die Grundformen Frau und Mann verwiesen wird (Meißner 2012, S. 18 f.).
Genderreflektierte Didaktik macht es sich zum Ziel Benachteiligung zu vermeiden und eine Gleichstellung von Lern- und Lebensbedingungen zwischen den Geschlechtern zu erreichen.
Benachteiligung ist oft eine Frage geschlechterbezogener Interessen im Unterricht. Jungen schreiben beispielsweise weniger fehlerhafte Diktate, wenn sie Wörter beinhalten, die sie interessieren, wie "Fußball, Höhle oder Abenteuer". Doch auch Mädchen wird der Zugang zu Lehrinhalten oft erschwert. Gerade die Naturwissenschaften bieten keine nachvollziehbaren Kontexte für sie. "Eine Pumpe als künstliches Herz ist für sie 1000-mal interessanter als eine Erdöl-Förderanalage", so die Professorin für Didaktik Astrid Kaiser (Röll, Iris; Schwarze-Reiter, Kathrin 2009). Werden also wieder getrennte Mädchen- und Jungenklassen benötigt? Das Münchner St. Anna-Gymnasium praktiziert beispielsweise seit Jahren die zweiteilige Trennung des Unterrichts zwischen Jungen und Mädchen in den ersten beiden Jahren der Fächer "Natur und Technik" und in der zweiten Fremdsprache sowie im ersten Jahr Physik. Die Resonanz ist positiv. Die Leistungen sind besser, da genauer auf die geschlechtstypischen Interessen eingegangen werden kann. Die Koedukationsdebatte der gendersensiblen Bildung versteht sich als eine "Dialektik von Gleichberechtigung und Verschiedenheit" (Röll, Iris; Schwarze-Reiter, Kathrin 2009).
Judith Butler spricht sich gegen eine Verstärkung kultureller Orientierungspunkte aus, die zu einer Verfestigung der grundlegenden Natürlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit führen und bestehende Machtstrukturen unterstützen. In einem zweigeteilten Unterricht besitzen alle Teilnehmer das gleiche Geschlecht und somit könnte beispielsweise auf die Verwendung einer gendergerechten Sprache und der Wiederholung der Zweigeschlechtlichkeit verzichtet werden. Zudem proklamiert die Philosophin die Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen und will Unterdrückungen unterbinden. Warum also sollten sich die Mädchen im Werkunterricht mit dem Metallbaukasten plagen, wenn sie sich ebenso handwerklich mit Gestaltungsarbeiten betätigen könnten? Könnte die Aufhebung des koedukativen Unterrichts die Lösung der bestehenden Probleme Butlers sein?
Wahrscheinlich nicht. Judith Butler würde vermutlich dem Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann zustimmen. Dieser warnt vor der gänzlichen Aufhebung der Koedukation, da jene wiederum Jungen und Mädchen benachteiligen würden, die geschlechtsuntypische Interessen aufweisen und belehrt, dass die Streuung innerhalb der Geschlechter viel größer sei als der statistische Unterschied zwischen Mädchen und Jungen (Röll, Iris; Schwarze-Reiter, Kathrin 2009). Die Aufhebung der Koedukation würde eine vollkommene Anpassung an Geschlechternormen bedeuten. Schülerinnen und Schüler wären gezwungen die Geschlechterrollen einzuhalten, da sie sonst mit Sanktionen, etwa in Form schlechter Schulnoten oder Spott fürchten müssten (Butler 2011, zit. In: Butler 2012, S.15 f., 19). Schülerinnen, die sich beispielsweise entgegen der Behauptung "Mathe ist ein Fach für Jungen" durch gute Leistungen beweisen, können so schnell als unweiblich und jungenhaft gelten. Ein Blick in das Ausland zeigt jedoch, dass dies keineswegs ein Naturgesetz sein muss. Laut der PISA-Studie in Mathematik liegen junge Isländerinnen vor ihren männlichen Schulkollegen und in Schweden, Griechenland und der Türkei finden sich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern im Fach Mathematik. Es ist davon auszugehen, dass deutsche Mädchen nicht weniger begabt sind, sich jedoch stärker an den bestehenden Rollenbildern orientieren (vgl. Schneider; Stanat, 2010, S. 161).
Da sowohl Jungen als auch Mädchen von der Benachteiligung betroffen sind, sollten geschlechtergerechte und gendersensible Ansätze nach den Maßstäben des Gender Mainstreaming erfolgen, da die umfassende politische Handlungsstrategie emanzipatorische Ziele für beide Geschlechter verfolgt. Hierbei bedeutet Gender Mainstreaming "[d]as bewusste Wahrnehmen und Berücksichtigen sozialer Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und bei allen Planungs- und Entscheidungsschritten sowie die Überprüfung aller Vorhaben auf ihre geschlechtsspezifischen Auswirkungen und ihre Gestaltung nach dem Grundsatz bestmöglicher Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern" (Frey 2012).
Aufgezeigt werden soll, dass die Kategorien Männlichkeit und Weiblichkeit durch kulturelle Konventionen und (unhinterfragte) Normen konstruiert werden und somit die "Rollen" von Frau und Mann nicht unveränderbar sind. Diese Ansicht teilen sowohl Vertreter gendersensibler Forschung als auch Judith Butler (Meißner 2012, S.8).
Das Verfahren des Gender Mainstreaming hat seine Wurzeln in feministischen Bemühungen internationaler Entwicklungspolitik und konnte mit der Verankerung im Abschlussdokument der Weltfrauenkonferenz 1995 erstmals die Regierungen veranlassen, die frauenpolitische Agenda umzusetzen. Der Blick auf die Herkunft ist entscheidend, um Judith Butlers Position zu verdeutlichen (Stiegler 2012). Butler stellt feministische Grundüberzeugungen in Frage, indem sie die "Frau" als Subjekt des Feminismus anzweifelt. Die diskursive Zuschreibung des Begriffes "Frau" wäre bereits der Effekt der vom Feminismus kritisierten Machtstrukturen und könne somit nicht als Ausgangspunkt einer Kritik der Geschlechterverhältnisse und Machtverhältnisse dienen (Blödorn 2009, zit. In: Scheffel 2010, S. 390).
Die Produktivität des Verfahrens Gender Mainstreaming ist folglich auch fraglich. Gender Mainstreaming erstellt eine Genderanalyse, um die Auswirkungen geplanter Maßnahmen auf die Lebenssituation von Männern und Frauen zu überprüfen. Wenn eine geplante Maßnahme dazu beiträgt, die Rollenmuster oder geschlechterbezogenen Lebensbedingungen zu verstärken oder nicht beheben zu können, kann diese bei entsprechender Zielsetzung nicht durchgeführt werden. Wenn empirisch reale Unterschiede aufgedeckt werden, muss also gehandelt werden, um die Unterschiede im Sinne der geschlechterpolitischen Zielsetzung abzubauen. Inwiefern die Differenz zwischen den Geschlechtern, sowie geschlechterbezogene Stereotypen verstärkt werden bestimmt hierbei die Zielsetzung. Ohne zielführende Anwendungsoptionen ist das Verfahren und der gewünschte Effekt des Gender Mainstreaming anzuzweifeln.

Institutionell verankerte Diskriminierungen gegenüber beiden Geschlechtern sind als Teil der Gesellschaft primär strukturell bedingt. Der Lern- und Sozialort Schule , als Spiegel der Gesellschaft, wird hierbei immer wieder selbst zum Schauplatz geschlechtsspezifischen Verhaltens und geschlechtsdiskriminierender Aspekte. Jugendliche entwickeln Vorstellungen von Rollenmustern durch die familiäre Prägung und andere Sozialinstanzen schon sehr früh und so haben es Schule und Unterricht oft mit recht stabilen Haltungen und automatisiertem Verhalten der Jugendlichen im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu tun.
Es sollte daher die Aufgabe der Schule sein, darüber sowie über Möglichkeiten und Strategien der Veränderung aufzuklären und Geschlecht als eine zentrale Größe sozialer Ungerechtigkeiten wahrgenommen werden.
Der gendersensible Unterricht hat die verfestigten Genderstereotypen als Grund unterschiedlicher Schulleistungen und Bildungsbeteiligungen zwischen den Geschlechtern erkannt und sich die Ziele der Dekonstruktion von Geschlechterrollen und der Gleichberechtigung von männlichen und weiblichen Unterrichtsteilnehmern gesetzt.
Die geschlechtstheoretische Philosophin Judith Butler würde Chancen und Gefahren in dieser aktuellen Bildungsdebatte sehen. Einigkeit beider Ansätze sollte in der Zielstellung zu erhöhter Sensibilität bezüglich der eigenen Denkmuster, der Offenheit gegenüber anderen Lebensweisen und dem erkenntlich Machen stigmatisierter Verhaltensweisen und Rollenmuster herrschen. Beide Sichtweisen möchten aufzeigen, dass die Rollen Männlichkeit und Weiblichkeit durch kulturelle Konventionen und teils unhinterfragter Normen konstruiert wurden und werden. Der Konstruktcharakter setzt somit die Voraussetzung der Wandelbarkeit der Gechlechter.
Die gendersensible Bildung könnte für Butler aber auch Gefahren darstellen, indem die Methoden und Zielsetzungen auf die Gleichstellung von Mann und Frau abzielen und folglich die Analyse auf die grundlegende Binarität der Geschlechter ausgerichtet ist, welche von Butler angezweifelt wird.
Butlers will bestehende Geschlechterrollen nicht destruieren, sondern mit einer "Anstiftung zur Geschlechter-Verwirrung" problematisieren und sensibilisieren, um das Geschlecht als eine variable Zuschreibungskategorie zu etablieren (Blödorn 2009, zit. In: Scheffel 2010, S. 393).
Gendersensible Bildung entspricht nicht den 'Gender Education' Vorstellungen von Judith Butler.

Literaturverzeichnis

* Blödorn, Andreas: Judith Butler. In: Scheffel, M. (Hrsg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. München: Beck 2010. Seiten 385-403. * Butler, Judith: Gender and Education. In: Butler, Judith: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer VS 2012. S. 15-27. * Derichs-Kunstmann, Katrin: Wie sieht ein gender-sensibles politisches Bildungsangebot aus? http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/gender-mainstreaming/147269/wie-sieht-ein-gender-sensibles-politisches-bildungsangebot-aus (25.12.2012). * Frey, Regina: Warum mach Gender Mainstreaming Sinn? http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/gender-mainstreaming/147997/warum-macht-gender-mainstreaming-sinn-beispiele (01.01.2013). * Gerede e.V.: Umgang mit vielfältigen Lebensweisen in Schule und Jugendhilfe. http://www.respekt.gerede-dresden.de/20.php (25.02.2013). * Greuter, Annika; Kiefer, Thomas: Gendersensibler Unterricht. https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/fakultaet1/ew/ew1/Personen/holzbrecher/25.04.12_Gendersensibler_Unterricht__Greuter_und_Kiefer_.pdf (25.02.2013) * Meißner, Hanna: Butler. Stuttgart: Reclam 2012. * Niedersachsen Gleichberechtigung und Vernetzung e.V.: Grundlagen der Genderdiskussion.http://www.genderundschule.de/index.cfm?uuid=6DD634D9D06511D6B42C0080AD795D93&index=gender (20.3.2013). * Blödorn, Andreas: Judith Butler. In: Scheffel, M. (Hrsg.): Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler. München: Beck 2010. Seiten 385-403. * Richter, Dagmar: Geschlechterspezifische Aspekte politischen Lernens. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch für politische Bildung. 3. überarbeitete Auflage. Bonn: Wochenschauverlag 2005. Seiten 407-419. * Röll, Iris; Schwarze-Reiter, Kathrin: So lernen Mädchen und Jungen. http://www.focus.de/schule/schule/unterricht/gleichberechtigung/tid-15531/titelthema-so-lernen-maedchen-und-jungen_aid_430452.html (22.01.2013). * Schneider, Wolfgang; Stanat, Petra (Hrsg.):PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt.Münster: Waxmann 2010. Seiten 161-167.

* Stiegler, Barbara: Gender Mainstreaming: Überflüssig oder kontraproduktiv? Eine Diskussion. http://www.bpb.de/gesellschaft/gender/gender-mainstreaming/147208/gender-mainstreaming-ueberfluessig-oder-kontraproduktiv-eine-diskussion (01.01.2013). * Troltenier, Imke: Gleichbeachtung der Geschlechter. http://www.lehreronline.de/gleichbeachtung.php?sid=64462845203822774436476307630620 (22.01.2013)

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